NORDIRLAND-PROTOKOLL – EINIGUNG IN WINDSOR ALS NEUSTART FÜR EU UND UK?

14. März 2023

Am 27. Februar 2023 verkündeten der britische Premierminister Rishi Sunak und die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen in einer Pressekonferenz in Windsor, dass man eine Einigung im Brexit-Streit über das Nordirland-Protokoll erreicht habe. Von der Leyen spricht von einem ‚neuen Kapitel‘ und einer ‚historischen Vereinbarung‘, Sunak von einem ‚entscheidenden Durchbruch‘.

Der ‚Windsor-Rahmen‘, “Windsor Framework“‘, bringt nach vier Verhandlungsmonaten mit dem neuen Premierminister, durch gegenseitigen Verhandlungswillen und Zugeständnisse, Lösungen und Chancen für Nordirland und die Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich (UK) und der Europäischen Union.

Neuerungen beim ‚Windsor-Rahmen‘

Das Protokoll zu Irland/Nordirland (Northern Ireland Protocol) ist Teil des Austrittsabkommens zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland (NI), das seit dem 1. Februar 2020 in Kraft ist. Nordirland erhielt dadurch einen Sonderstatus, u.a. Zugang zum EU-Binnenmarkt beim Warenhandel, der aber auch mit Bedingungen zum Schutz der EU verbunden war. Dies erwies sich als der umstrittenste und politisch explosivste Teil des Austrittsabkommens.

In der praktischen Umsetzung vor Ort gab es immer wieder Schwierigkeiten, vor allem bei der Warenabwicklung aus Großbritannien, etwa bei Lebensmitteln, Zollformalitäten und Steuern. Folgen waren z.B. Verzögerungen durch viele Formalitäten, lange Lastwagenschlangen, leere Supermarktregale und fehlende Arzneimittel in NI. Es schwelte auch Unmut auf britischer Seite und bei den Unionisten in NI, dass die Einheit des Vereinigten Königreichs geschädigt würde, weil in NI andere Regeln galten. An der Rechtsgültigkeit des Protokolls wurde besonders von der Johnson-Regierung Kritik geübt und Änderung verlangt, obwohl UK es selbst mit ausgehandelt und unterschrieben hatte. Eine komplette Neuverhandlung lehnte die EU damals ab.

Von britischer Seite wurden Übergangsfristen nach dem Handels- und Kooperationsvertrag zwischen EU und UK einseitig verlängert und im Juni 2022 sogar ein Gesetz, Northern Ireland Protocol Bill, im britischen Unterhaus eingebracht und beschlossen (wenn auch noch nicht im Oberhaus), das sog. ‚Binnenmarktgesetz‘, das die Vereinbarung eigenmächtig einseitig ändern könnte. Folgerichtig leitete die EU ihrerseits ein Vertragsverletzungsverfahren gegen UK ein. Die Fronten waren verhärtet.

Schon im November 2022 äußerte sich allerdings der neue Premier Sunak zuversichtlich beim Treffen mit dem damaligen irischen Premierminister Micheál Martin, dass man mit ‚gutem Willen und Pragmatismus‘ eine Lösung beim NI Protokoll mit der EU erreichen könne. Martin stimmte zu, dass es ein ‚Fenster der Möglichkeit‘ gebe.

Dieses Fenster hat Sunak jetzt, im Gegensatz zu seinen Vorgängern Boris Johnson und Liz Truss, genutzt. Er unterstrich in seiner Rede Einigkeit mit der Kommissionspräsidentin darin, dass man einen Rückfall in die Vergangenheit der Gewalt in Nordirland vermeiden müsse. Sunak fasste drei Hauptpunkte der Windsor-Einigung zusammen: den reibungslos laufenden Handel innerhalb des gesamten Vereinigten Königreichs, den Schutz der Position von Nordirland innerhalb UKs und die Sicherung der Souveränität für die Menschen in NI.

Als Erleichterung soll es beim Warenverkehr nach NI bei der Zollabfertigung eine ‚green lane‘ geben für Güter aus Großbritannien, die für NI bestimmt sind und eine rote für Güter, die weiter in die EU gehen als Zielort oder dorthin gelangen könnten. (Diese Einteilung wäre ähnlich der an Flughäfen bei der Zollabfertigung.) In der grünen Spur wird es weniger Bürokratie und schnellere Abfertigung geben. Das bedeutet weniger Papierkram für Supermärkte, Restaurants und Großhändler und die Garantie der Verfügbarkeit aller Lebensmittel nach britischen Standards in NI wie im übrigen Königreich.

Übrigens ist der Vorschlag einer beschleunigten Spur für Waren nach Nordirland (einer ‚Überholspur‘) und einer langsameren für genauere Prüfung nicht neu, sondern wurde schon im Oktober 2021 von der Europäischen Kommission mit ‚maßgeschneiderten Regeln‘ und anderen Lösungsvorschlägen gemacht. Die damalige Regierung unter Boris Johnson lehnte diese ab.

Mit der neuen Regelung soll z.B. die Zollpflicht für Pakete an Freunde und Familie oder bei Online-Shopping innerhalb UKs entfallen. Britische Mehrwert- oder Verbrauchssteuer oder staatliche Subventionen können für das gesamte Königreich gelten, sogar unter den EU-Mehrwertsteuersätzen-Mindestsätzen. Die Güter der grünen Spur gelangen dann nicht in den EU-Binnenmarkt, z.B. ‚unbewegliche Vermögensgüter‘ wie Wärmepumpen für das Haus. Die Reform der Alkoholsteuer in GB, die ein Bier in der Kneipe billiger macht, gilt demnach auch in NI. Typisch britische Produkte wie Pflanzen, Bäume oder Saatkartoffeln werden auch in nordirischen Gartencentern erhältlich sein.

Alle Arzneimittel, die durch die britische Regulierungsbehörde zugelassen sind, werden auch in nordirischen Apotheken oder Krankenhäusern problemlos verfügbar sein, mit identischen Verpackungen und einheitlichen Etiketten. Sicherheitsmerkmale wie in der EU entfallen. Gesundheits- und Verbraucherschutzstandards UKs gelten. Voraussetzung ist eine entsprechende Kennzeichnung „UK only“ und keine Weiterleitung in den EU-Binnenmarkt.

Das Reisen mit Haustieren wird einfacher mit einem Reisedokument, Mikrochip und der Erklärung, dass das Tier nicht in die EU reist.

Abgesehen von den praktischen Erleichterungen für Menschen im Alltag, wird durch die Änderungen NIs Platz im Vereinigten Königreich gestärkt und unmissverständlich klargestellt, dass Nordirland Teil UKs ist, solange man ‚unter sich‘ bleibt, also kein möglicher Schaden für die EU entsteht.

Beim dritten Punkt zur Souveränität der Menschen in NI ist Sunak deutlich bemüht, den Einfluss von EU-Gesetzgebung nicht so dominant erscheinen zu lassen und vor allem sei es, ‚nur ein Minimum, um eine harte Grenze mit Irland zu vermeiden‘. Bei der Pressekonferenz greift ein Pressevertreter genau diesen Punkt mit der Frage nach der Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) auf. Sunak verweist auf den Vorteil NIs mit Zugang zum EU-Binnenmarkt und auf die sog. ‚Stormont-Bremse‘ (Stormont Brake). Das nordirische Parlament könnte damit faktisch die Anwendung von EU-Recht in Bezug auf Warenverkehr in NI verhindern.

Maroš Šefčovič ,Vize-Kommissar der Europäischen Kommission und Ko-Vorsitzender des Gemeinsamen Ausschusses der EU und des Vereinigten Königreichs im Rahmen des Austrittsabkommens, weist in seinem Tweet vom 27.2.2023 auch darauf hin, dass außer dem Nutzen für die Bevölkerung Nordirlands zusätzlich die Integrität des EU-Binnenmarkts geschützt werde.

Für diese Schutzmaßnahmen braucht bei allem Vertrauensvorschuss die EU etwa Zugang zu britischen IT-Zollsystemen und Zolldatenbanken, um Risikobewertungen durchführen zu können. Die Regelung für ‚vertrauenswürdige Händler‘ für Waren der ‚grünen Spur‘ wird vorerst überwacht. Die Kennzeichnung „nicht für die EU“ für den Endverbauch in NI muss eingeführt werden. Kontrollen, Marktüberwachung und bei Nichtbefolgung der Vereinbarungen die Aussetzung der Erleichterungen sind also immer noch möglich. Die Zollkontrolle von Gütern, die für das EU-Mitgliedsland Irland bestimmt sind, also der roten Spur, folgt strengeren Regeln.

Der ‚Windsor-Rahmen‘, derzeit noch aus mehreren Erklärungen und Dokumenten bestehend, soll dann das Protokoll als Teil des Austrittsabkommens ergänzen (also nicht ersetzen oder abschaffen).

Was bedeutet die sog. ‚Stormont-Bremse‘ auf dem Hintergrund der Lage in Nordirland?

Sonderstatus Nordirlands nach dem Brexit

„Stormont“ ist das Parlamentsgebäude Nordirlands in Belfast, das nordirische Parlament „Northern Ireland Assembly“ (NIA) wurde dort nach dem Karfreitagsabkommen (Belfaster Abkommen) 1998 eingerichtet. Es erfüllt die dezentrale Gesetzgebung nur für NI und hat die Macht, in weiten Bereichen Gesetze zu erlassen (z.B. zu Wohnen, Beschäftigung, Erziehung, Gesundheit, Landwirtschaft und Umwelt). Mit „Devolution“, also Dezentralisierung, wurde nach einem Referendum in Nordirland 1998 (in Schottland und Wales schon 1997) vom UK Parlament einige Macht an nationale Parlamente oder Versammlungen mit ihren unterschiedlichen historischen oder organisatorischen unterschiedlichen Strukturen übertragen.

Letztlich bleibt die Macht aber in London, denn die UK Regierung bleibt verantwortlich für die nationale Politik in allen Bereichen, die nicht dezentralisiert wurden, z.B. Außenpolitik, Verteidigung, soziale Sicherheit, makro-ökonomisches Management und Handel. Zwischen 2002 und 2007 nach dem Zusammenbruch der NI Regierung übernahm Westminster z.B. als direkte Regierung und beschloss die zeitweise Aufhebung der ‚Devolution‘.

Beim EU-Referendum 2016 stimmte die Mehrheit in NI zwar gegen den Brexit, die Mehrheit in UK aber dafür. Besondere Umstände der irischen Insel mussten berücksichtigt werden, so die Wahrung des Karfreitagsabkommens, d.h. eine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland musste vermieden, die Zusammenarbeit zwischen Nord und Süd geschützt werden.

Irland ist Mitglied der EU, Nordirland ist Teil des Vereinigten Königreichs, das nicht mehr Teil der EU sein wollte. Konfliktpotential war vorprogrammiert. Durch das Nordirland-Protokoll erhielt NI Vorteile im Vergleich zum Rest UKs, es blieb im EU-Binnenmarkt und hat wirtschaftlich deutlich davon profitiert.

Die EU hat die Region NI durch mehrere EU-Programme gefördert, ist an Friedenssicherung sehr interessiert und bietet z.B. noch seit Juli 2022 ein neues EU-übergreifendes Programm PEACE-PLUS zur Förderung von ‚Frieden, Versöhnung und grenzüberschreitender Zusammenarbeit‘ zwischen Irland und Nordirland, das vorerst bis 2027 laufen soll.

Die größte Furcht war, dass die unversöhnlichen Interessengegensätze und Feindseligkeiten zwischen den gesellschaftlichen Gruppen der Unionisten/Loyalisten und Republikaner/Nationalisten wieder als gewalttätige, bewaffnete Konflikte ausbrechen könnten wie zuletzt von 1969 bis 1998. Die geografische Grenze zwischen Irland und NI hatte seine Bedeutung weitgehend verloren, aber der Brexit enthielt die Gefahr, dass der NI-Konflikt wieder angefeuert und der Frieden gefährdet wird. Schon im Dezember 2021 stellte eine unabhängige Kommission Independent Reporting Commission (IRC), von der britischen und irischen Regierung eingesetzt, fest, dass diese Furcht begründet war. Wenn auch nicht vergleichbar mit früheren Gewalttaten, hat die Reaktion auf den Brexit, einschließlich des Nordirland-Protokolls, zu mehr Gewalt und der Präsenz von mehr paramilitärischen Gruppen geführt.

Sunak erwähnt am 27.2.2023 die Schüsse auf einen Polizisten vom Police Service of Northern Ireland (PSNI) im nordirischen Omagh, zu denen sich die paramilitärische Gruppe „New IRA“ bekannte. Die Gewalt in NI ist also nur gezügelt, aber nicht verschwunden. In einigen Medien wurde schon 2021 für ein „Comeback der Gewalt“ in NI auch das „Brexit-Gift“ verantwortlich gemacht.

Die Northern Ireland Assembly soll eine politische Bandbreite garantieren, z.B. die Repräsentation von Minderheiten in bestimmten Bezirken, also nicht nur Vertretung der größten Parteien. Bedingung ist aber, dass die beiden größten politischen Gruppen, Unionisten und Republikaner, an der Regierung beteiligt sind. Dies verursachte immer wieder Probleme, weil eine Seite, zuletzt die DUP (Democratic Unionist Party), oder die irisch-republikanische Sinn Féin, gelegentlich eine Zusammenarbeit ablehnten.

Hier besteht u.a. ein Zusammenhang zum Nordirland-Protokoll, das die DUP konsequent in der bisherigen Form ablehnt, weil es die Einheit der Union bedrohe. Nach der nordirischen Wahl am 5. Mai 2022, bei der Sinn Féin eine Mehrheit erzielte, blockierte die DUP die Regierungsbildung.

Sie weigerte sich als zweitstärkste Kraft aus Protest gegen die Handelsvorschriften durch das Nordirland-Protokoll und als ‚Botschaft an die EU‘ (vermutlich auch aus Unwillen über ihre neue Rolle nur als Juniorpartner), die vorgesehene Regierungschefin, stellvertretende Sinn Féin-Vorsitzende Michelle O’Neill zu wählen. Hierdurch wurde das Parlament arbeitsunfähig.

Zur Weigerung der Unionisten noch im Januar 2023 kommentierte etwa das Handelsblatt, dies befeuere gerade den Wunsch nach einem Referendum zur Wiedervereinigung Irlands und damit wieder der Zugehörigkeit zur EU, was Sinn Féin anstrebt. Daher könnte die DUP genau das Gegenteil zur gewünschten starken Einheit UKs erreichen und selbst unter Druck geraten, nun endlich dem geänderten Nordirland-Protokoll zuzustimmen.

London hätte wieder die Macht einer Regierungsübernahme in NI, scheint das aber nicht zu wollen, da es den Konflikt nicht lösen würde und hat nach einigen verschobenen Deadlines für NI-Neuwahlen die Frist bis 2024 verlängert.

Der neue ‚Windsor-Rahmen‘ könnte auch die politisch festgefahrene Situation in NI lösen.

Die sog. ‚Stormont-Bremse‘ wäre das größte Zugeständnis der EU, denn es würde UK ermöglichen, auf Antrag von 30 Mitgliedern der Northern Ireland Assembly aus zwei oder mehr Parteien, sich der Anwendung von EU-Recht in Bezug auf den Warenverkehr zu widersetzen, wenn es erhebliche und dauerhafte negative Auswirkungen auf das tägliche Leben der dortigen Gemeinschaften hätte.

Ein solches Veto wäre allerdings kein einfacher Vorgang, sondern, wie von der Leyen sagte, ‚eine Notfallmaßnahme‘, von der nur als absolut letztes Mittel Gebrauch gemacht werden sollte. Es würde in letzter Konsequenz bedeuten, dass NI (und UK der EU gegenüber) selbstverständlich Gesetze ablehnen könnte, vereinfacht gesagt, würde das dann von einem Schlichtungsausschuss geprüft, der auch den EuGH beteiligen würde. Letztlich könnte NI seinen Zugang zum EU-Binnenmarkt verlieren, der Punkt bleibt aber noch etwas vage. Dennoch ist diese Notfallmaßnahme vor allem für die Brexit-Befürworter und Unionisten ein Angebot.

Man könnte einwenden, dass EU-Gesetzgebung immer noch (zum Ärgernis der DUP) eine Rolle spielt, aber Privilegien haben ihren Preis, den Sunak (anders als Johnson) nicht verschweigt. Er erklärt, wenn NI den Zugang zum EU-Markt ohne harte Grenze nutzen wolle, dann hätte die EU eben einige Bedingungen. Daher müsse es auch eine Rolle für den EuGH geben, aber der Großteil der EU-Gesetze finde nicht Anwendung in NI, und die wenigen Prozente müssten akzeptabel sein.

Am Rande bemerkt, bei der Diskussion dieses Zugeständnisses wird übersehen, dass es auch schon im Original-Nordirland-Protokoll, d.h. mit Anwendung vom 1.1.2021, einen Abschnitt gibt, der ausdrücklich den Willen und die Entscheidung Nordirlands berücksichtigt. Schon dort wird der NIA bedeutender Einfluss auf die langfristige Anwendung betreffender EU-Rechtsvorschriften eingeräumt, der z.B. EU-Recht auf Waren und Zölle, den Elektrizitätsbinnenmarkt, Mehrwertsteuer und staatliche Beihilfen betrifft. Der NIA könnte z.B. vier Jahre nach Anwendung des Protokolls mit einfacher Mehrheit für oder gegen die Anwendung stimmen. In letzterem Fall würde das Protokoll zwei Jahre später erlöschen. Die ausgetüftelte ‚Stormont-Bremse‘ geht etwas weiter, ist aber auch nicht komplett neu.

Einschätzung und Ausblick

Sunak hat noch am 27.2.2023 dem House of Commons (Unterhaus) weitere Details vorgestellt. Die Positionen der anderen Parteien geben einen ersten Eindruck von der Akzeptanz der neuen Vereinbarung.

Der Oppositionsführer Keir Starmer sagt, dass seine Labour-Partei der Vereinbarung mit der EU zustimmen wird, wie schon früher zugesagt. Er verweist darauf, dass das NI Protokoll nie perfekt sein wird, sondern ein Kompromiss, der aber vor allem im Sinne des Karfreitagsabkommens für NI und im Interesse des gesamten Königreichs funktionieren kann. Die grünen und roten Spuren lobt er, weil es das Leben für Unternehmen und Menschen durch bessere Teilnahme an der Wirtschaft UKs vereinfacht.

Er kritisiert die ausweichende und unehrliche Haltung des früheren Premierministers Boris Johnson, nicht nur der DUP gegenüber, sondern bei allen Menschen in NI, denen er versprochen hatte, dass das NI Protokoll nach dem Brexit keine Formalitäten, keine Kontrollen, keine Grenzen für Güter bedeute, wenn diese die Irische See überquerten. Dies sei ‚Unsinn‘ gewesen.

Ed Davey von den pro-europäischen Liberalen, Liberal Democrats (LibDem), sagt Unterstützung für den Deal zu.

Für die größte politische Partei Schottlands, die Scottish National Party (SNP) erklärt Stephen Flynn, der die Gruppe im Parlament nach Ian Blackford seit Dezember 2022 führt, dass auch seine Partei die Vereinbarung unterstützen werde. Er begründet seine Zustimmung mit drei Punkten: der Sicherung des Friedens in NI, dem Schutz des Karfreitagsabkommens und der Unterstützung, dass die demokratischen Institutionen in NI wieder funktionieren. Er kritisiert aber die Konservativen, die immerhin damals den Austrittsvertrag verhandelt hätten und denen somit auch die Probleme des Protokolls bestens bekannt sein müssten.

Flynn erinnert daran, welchen Schaden der Brexit angerichtet hat, etwa den nachweislich wirtschaftlichen und das Handelsdefizit zwischen UK und EU. Schottland und die SNP hatten sich deutlich vor dem EU-Referendum gegen den Brexit ausgesprochen, wurden aber als Teil des Vereinigten Königreichs überstimmt. NI habe durch das Protokoll den Zugang zum EU-Binnenmarkt und zur Zollunion, Vorteile, die Schottland NI nicht neide, aber auch gerne hätte. Dies wäre möglich durch Schottlands Beitritt zur EU, d.h. nach der Unabhängigkeit von Westminster.

Sir Jeffrey Donaldson, seit Juni 2021 Führer der DUP, weist darauf hin, dass die DUP konsequent vertreten habe, das Nordirland-Protokoll funktioniere nicht (die damalige Premierministerin Theresa May ist u.a. am DUP-Widerstand beim Austrittsvertrag mit der EU gescheitert), und man habe immer auf Neuverhandlungen beharrt. Die habe die EU aber kategorisch abgelehnt, aber jetzt sei es Sunak doch gelungen, neu zu verhandeln, was er lobt. Ihm missfällt nach wie vor die Zuständigkeit von EU-Gesetzgebung die Wirtschaft NIs betreffend, aber man werde alle Punkte prüfen und beraten. (Donaldson erklärte am 06. März 2023, dass er ein Forum einrichtet zur Prüfung des ‚Windsor-Rahmens‘, u.a. mit der früheren DUP-Führerin Arlene Foster, neben Unionisten auch mit Vertretern aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Man werde voraussichtlich Ende März einen Bericht vorlegen.) Die Souveränität Nordirlands sei zentral, entsprechend Artikel 6 des Act of Union, wonach die wirtschaftliche Union des Vereinigten Königreichs vorrangig sei.

Sunak respektiert dieses Statement, sieht Lösungen durch die Windsor-Vereinbarung, gibt Zeit für Prüfung und bleibt gesprächsbereit. Zahlenmäßig braucht seine Regierung zwar nicht die Stimmen der DUP für eine Mehrheit im Unterhaus, aber er möchte sie einbinden, vor allem für eine Lösung beim Stillstand im nordirischen politischen Tagesgeschäft.

Unklar bleibt, wie viele Brexit-Hardliner um Boris Johnson innerhalb der konservativen Partei den Deal boykottieren könnten.

Es braucht noch eine rechtsverbindliche Umsetzung der Einigung von Windsor auf beiden Seiten. In einem Statement der britischen Regierung vom 27.2.2023 zur rechtlichen Position des Windsor-Rahmens ist ein sehr entscheidender Punkt die Erklärung, dass das Gesetz zum Nordirland-Protokoll („The Northern Ireland Protocol Bill“), welches faktisch einseitig das Protokoll hätte aufkündigen können, nicht mehr notwendig sei und keine rechtliche Rechtfertigung mehr hätte. Das Vertragsverletzungsverfahren der EU würde also wegen der Vereinbarung vom 27.2.2023 jetzt hinfällig.

Rechtlich erforderlich wird eine neue UK Gesetzgebung für einige Punkte, z.B. die Ergänzung der „Stormont Brake“ beim Northern Ireland Act 1998.

Auf EU-Seite braucht es die Zustimmung der Mitgliedstaaten und des Europäischen Parlaments. Die Europäische Kommission hat daher schon dem Rat der Europäischen Union, der Stimme der EU-Mitgliedsländer, Vorschläge über den Standpunkt der Union vorgelegt, sowie Legislativvorschläge für das Europäische Parlament.

Der Gemeinsame Ausschuss der EU und des Vereinigten Königreichs wird noch im März im Rahmen des Austrittsabkommens unter dem gemeinsamen Vorsitz von Vizepräsident Maroš Šefčovič und dem Außenminister des Vereinigten Königreichs James Cleverly beraten. Beide hatten z.B. schon im Januar 2023 die konstruktive Vorarbeit betont.

Es zeichnet sich ab, dass Sunak geschafft hat, was Boris Johnson nicht geschafft hat: praktische Lösungen und Entgegenkommen von der EU. So betont er in der Antwort auf eine Frage des Labour-Abgeordneten Hilary Benn, dass er konstruktive und gute Verhandlungen mit der EU gehabt habe, besonders mit Ursula von der Leyen, die er persönlich (und später auch ihr Team) für Führungsstil und Weitsicht bei der Lösung von Problemen lobt.

Sunak verweist zwar darauf, dass die Verhandlungen nicht einfach waren und es Differenzen zwischen EU und UK gab (und sicher noch gibt), aber er sagt, dass sie ‚Verbündete‘, ‚Handelspartner‘ und ‚Freunde‘ sind. Dies sei besonders deutlich in ihrer gemeinsamen Haltung bei der Unterstützung der Ukraine geworden.

Ein neues Kapitel in den Beziehungen zwischen EU und UK

Hintergründe für die neue Vereinbarung sind auch der Ukraine-Krieg und der Einfluss des US-amerikanischen Präsidenten Biden. UK und EU teilen auch nach dem Brexit viele Werte, sind füreinander geschätzte Partner und Verbündete in der Unterstützung der Ukraine. Biden hatte schon beim ersten Gespräch mit der damaligen britischen Premierministerin Truss in New York im September 2022 zum Thema NI klar seine Priorität der Bewahrung des Friedens in NI genannt und sah die lange unversöhnliche britische Haltung gegenüber der EU vor allem als unerwünschtes Konfliktpotential. Anders als sein Vorgänger Trump, schätzte Biden Boris Johnsons anti-europäische provokative und unsachliche Art nicht und war nicht traurig, ihn gehen zu sehen, betonte aber, dass USA und UK enge Freunde und Verbündete blieben.

Während Johnson Brexit-Anführer war, trat Truss noch im Mai 2016 als Brexit-Gegnerin auf, um dann nach dem Referendum in einer Kehrwende eine klare Brexit-Befürworterin zu werden. Sie wurde sogar im Dezember 2021 Verhandlungsführerin gegenüber der EU in Bezug auf das Nordirland-Protokoll, als Nachfolgerin des zurückgetretenen Brexit-Ministers David Frost. Dabei fuhr sie auch als Außenministerin in der Regierung Johnson einen Konfrontationskurs gegenüber der EU.

Schon im Juli 2022 kommentierten Mitglieder des Think-Tanks European Policy Centre, dass Truss‘ Haltung weniger mit der Realität in Nordirland zu tun habe, als vielmehr damit, bei Querelen innerhalb der konservativen Partei zu punkten.

Es sei Zeit für einen Neustart und sie fragten, ob ein neuer Premier die Beziehung zwischen der EU und UK reparieren könne. Dabei waren sie skeptisch sowohl Truss als auch dem damaligen Mitbewerber um Johnsons Nachfolge Sunak gegenüber. Nach Truss‘ nur sechswöchiger glückloser Amtszeit scheint ihr damals unterlegener Gegner und dann Nachfolger Rishi Sunak allerdings mindestens eins erreicht zu haben: Die großen Gesten und hochfliegenden Emotionen bei den Verhandlungen mit der EU sind Pragmatismus und Vernunft gewichen.

Sunak, Brexit-Befürworter, aber mit deutlich mehr wirtschaftlichem Fachwissen als Truss oder Johnson, war u.a. unter Johnson Schatzkanzler, trat aber im Sommer 2022 aus Protest gegen ihn zurück. Anders als letzterer, suchte er praktische Lösungen für das Nordirland-Protokoll und hat anscheinend mit dem ‚Windsor-Rahmen‘ auch diplomatisch in seiner Amtszeit seit Oktober 2022 einen Erfolg durch Kompromissbereitschaft eingefahren.

Von Seiten der EU gibt es eine positive Stellungnahme: „Gestützt auf gegenseitiges Vertrauen und uneingeschränkte Zusammenarbeit können beide Seiten ein neues Kapitel ihrer Partnerschaft aufschlagen und das Potenzial der Beziehung voll ausschöpfen.“ Ursula von der Leyen kommentierte die Einigung, sie ermögliche eine ‚bilaterale Beziehung aufzubauen‘ wie enge Verbündete. Die Umsetzung auf beiden Seiten in „rechtsverbindliche Instrumente“ und ihre Durchführung werde „zügig“ und „nach Treu und Glauben“ stattfinden.

Wie manche Medien feststellen, macht die neue Vereinbarung nicht den Brexit ungeschehen, ändert nicht alle negativen Folgen für UK oder die EU, aber es macht das Beste aus der Situation, zum einen für NI, zum anderen für eine bessere Zusammenarbeit zwischen UK und EU. Die neue Annäherung wird z.B. als ‚Wende‘ und ‚Abkehr von der Isolationspolitik‘ (der Briten) bezeichnet. Neben Sunaks Verdiensten wird auch das Entgegenkommen, sogar ‚Geschenk‘, aus Brüssel erwähnt, indem die EU auf viele Vorschriften und Kontrollen verzichten will.

Andere Zusammenarbeit über NI hinaus kann weitergehen, etwa die Aushandlung der Beteiligung UKs mit assoziiertem Status am Forschungsprogramm Horizon Europe, die wegen der Differenzen auf Eis gelegt wurde.

Der ‚Brexit-Zankapfel‘ um das Nordirland-Protokoll ist nicht komplett verschwunden, aber Windsor hat immerhin auch eine Annäherung zwischen EU und UK gebracht, und das ist ein Anfang.

Für Christopher 1988-2021