16. April 2020
Am 04. April wurde Keir Starmer mit gut 56% der gültigen Stimmen im ersten Wahlgang neuer Vorsitzender der Labour-Partei und Oppositionsführer als Nachfolger von Jeremy Corbyn. Manche nannten das Ergebnis eine ‚leise Revolution‘, zwar überschattet von der Corona-Krise, aber leise bedeutet nicht weniger einflussreich.
Starmers schwieriges Labour-Erbe
Starmer, der den Titel ‚Sir‘, für Verdienste um Recht und Strafjustiz erhielt (allerdings ungern benutzt), war Menschenrechtsanwalt und Generalstaatsanwalt. Er beriet z.B. den damaligen Premierminister Tony Blair bei der Einführung der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten in britisches Recht. Seit 2015 Labour-Abgeordneter im Unterhaus, war er ausdrücklicher Brexit-Gegner und unterstützte nach dem EU-Referendum 2016 den (erfolglosen) innerparteilichen Aufstand gegen Corbyn. Dennoch wurde er in seinem Schattenkabinett an vorderster Front Brexit-Schattenminister. Bei der Labour-Konferenz 2018 plädierte er, immer Pro-Europäer, für ein zweites Referendum mit der klaren Option eines EU-Verbleibs. Corbyn, eher Euroskeptiker und Brexit-Befürworter, folgte nur halbherzig und widerwillig dem Labour-Manifest mit der Forderung nach einer neuen Volksabstimmung.
Corbyns unklarer Schlingerkurs, der Brexit-Gegner und Befürworter in der Labour-Partei angeblich einen sollte als sogenannter ’neutraler‘ Kurs, war aber ein Fehlschlag. Das Thema Brexit war für Labour Gift, und Johnson wies im letzten Wahlkampf erbarmungslos auf diese Schwachstelle einer unklaren Gegenposition hin. Bei Labour führte auch diese Unvereinbarkeit zweier interner Fronten, neben der fehlenden Akzeptanz von Corbyn in der Bevölkerung, zu massiven Wahlverlusten im Dezember 2019, dem schlechtesten Wahlergebnis seit 1935. Dagegen sammelten die Konservativen sich mehrheitlich hinter Johnsons ‚Get Brexit done!‘ und fuhren einen harten und wahlmäßig sehr erfolgreichen Brexit-Kurs. Mit einer satten Mehrheit von 80 Sitzen waren sie, anders als unter Theresa May mit den ermüdenden und immer ergebnislosen Abstimmungen zum Brexit im Unterhaus, eindeutige Sieger.
Starmers zukünftiger Kurs
Die Entscheidung über den Brexit ist gefallen. Starmer wird derzeit keine neue Diskussion dazu aufgreifen. In seiner ersten Rede als Vorsitzender erwähnt er das Wort nicht. Er wird aber seine pro-europäische Haltung nicht verlassen. Signal dafür ist, bei allen Versuchen, die Partei zu einen, auch die Besetzung seines Schattenkabinetts mit vielen, die gegen den EU-Austritt gestimmt hatten. Für den Schlüsselposten als Schatten-Schatzkanzlerin holte er z.B. Anneliese Dodds, erste Frau in dieser Position, die als Pro-Europäerin 2014-2017 Abgeordnete im Europäischen Parlament war. Danach wurde sie Abgeordnete im Unterhaus und war 2017-2020 schon im Team des vorherigen Schatten-Schatzkanzlers John McDonnell.
Bei seinem künftigen Kurs wird für Starmer viel davon abhängen, wie weit es ihm gelingt, die Labour-Partei zu einen, d.h. auch seine internen Gegner, die mit dem Brexit sympathisierten oder ihn zumindest nicht verhindert haben. Natürlich liegt sein Blick auf den nächsten nationalen Wahlen (voraussichtlich 2024), die er für Labour gewinnen will. Er hat erfahren, dass eine proeuropäische Haltung nicht unbedingt ein Gewinnerthema ist, (zwar für die Scottish National Party, aber nicht etwa für die Liberal Democrats), doch Überzeugungen nicht ins Scheinwerferlicht zu stellen, bedeutet nicht, sie aufzugeben.
Vor den Wahlen liegen noch die Verhandlungen mit der EU über einen Handelsvertrag. Und während die Regierung Johnson (noch) nicht von dem Kurs abweicht (So wenig EU wie möglich), notfalls auch ohne Vertrag den Brexit im Dezember 2020 abzuschließen, ist Starmers Haltung anders. Er möchte einen umfassenden Handelsvertrag mit möglichst naher Anbindung an den EU-Binnenmarkt und die Zollunion.
Schon bei den Parlamentsdebatten um den Austrittsvertrag, etwa im Oktober 2019, hat er Johnson herausgefordert zu dessen Streichung der Worte ’so eng wie möglich‘ bei dem Warenverkehr in einem Handelsvertrag mit der EU. Ebenso klagte er an, dass die Ablehnung der Zollunion die Fertigungsindustrie bis ins Mark treffen werde. Er wird kein einfacher Gegner für Johnson.
Einen erneuten Beitritt zur EU hat Starmer zumindest nicht ausgeschlossen, aber als derzeit unrealistisch auf Eis gelegt. Zum Brexit-Tag am 31. Januar forderte er auch solche auf ‚loszulassen‘, die bleiben wollten. Jetzt muss die bestmögliche Lösung für die zukünftigen Beziehungen gefunden werden. Während der Übergangsfrist bis (vorerst) 31.12.2020 müssen z.B. auch die Rechte von britischen Staatsangehörigen in der EU und von EU-Bürgerinnen und Bürgern in UK geklärt werden, und die Debatte um Immigration auch im Interesse des Staates ist noch nicht abgeschlossen. Angesichts der Abwanderung von Angehörigen aus EU-Ländern (vor allem osteuropäischen) nach dem Referendumsentscheid 2016, gerade aus Berufen im Gesundheitssektor, ist das ein Hauptthema.
Brexit und Corona
Starmer hat immer wieder sehr deutlich gesagt, dass er in der gegenwärtigen Corona-Krise den Zeitplan der EU-UK-Verhandlungen für unrealistisch hält und plädiert für eine Verschiebung des Verhandlungsendes. Zu den Verhandlungsthemen Durchführung, ‚level playing field‘, (d.h. Regeln für Wettbewerb, staatliche Unterstützung, Besteuerung, Arbeit und Umweltstandards), Fischereirechte und Zusammenarbeit in der Justiz, gibt es noch keine Übereinkünfte.
Er ist Realist und Pragmatiker und verweist immer wieder darauf, sich darauf zu konzentrieren, was getan werden kann und muss, etwa vor kurzem zur Corona-Ausgangssperre. Er hat angeboten, konstruktiv (wenn auch nicht unkritisch) mit Johnson zusammenzuarbeiten, um die derzeit größte Bedrohung zu bekämpfen, die nicht die EU ist, sondern Covid-19. Die Erfahrungen während der Corona-Krise mit einem starken Staat, der so in das Leben der Menschen eingreift, die Rolle des National Health Service (immerhin ursprünglich eingerichtet durch eine Labour-Regierung) wird man nicht vergessen, Starmer wird Johnson mit Sicherheit daran erinnern. Wie aber der ‚New European‘ zu Herausforderungen an Starmer schreibt, sei Politik schlicht den Ereignissen ausgeliefert und niemand wisse, was nach der Corona-Krise komme.
Gibt es berechtigte Hoffnung auf einen Europa-freundlicheren und klaren Führungskurs bei Labour mit Keir Starmer? Ja, zumindest mit dem Vorsitzenden, wenn auch sicher nicht als Kernthema. Er wird Johnson zu den laufenden EU-Verhandlungen Kontra geben. Und was die ‚leise Revolution‘ betrifft: Von den lauten Tönen hatten wir in den letzten Jahren genug, und die Sachorientierung blieb dabei oft auf der Strecke. Etwas leisere und vernünftigere britische Töne wären sicher nicht nur für Labour ein gutes Rüstzeug.