4. April 2020
In Corona-Zeiten scheint der Brexit sehr weit weg, wir haben andere Probleme und immerhin haben sich die Briten doch entschieden, die EU zu verlassen, oder? Am 31. Januar 2020 wurde der Brexit offiziell, das Vereinigte Königreich ein Drittstaat, und wir befinden uns in einer Übergangsphase bis 31. Dezember 2020. Trotz Forderungen nach einer Verlängerung der Übergangsfrist gerade in diesen Zeiten, scheint es nicht so, als würde Boris Johnson seinen ursprünglichen Kurs nach dem Parlamentsbeschluss gegen eine Verlängerung aufgeben. Die zukünftigen Beziehungen zwischen EU und UK müssen verhandelt werden und ein harter Brexit ohne neuen Vertrag ist nicht vom Tisch.
Aber auch wenn das Thema Brexit in den deutschen Medien seit Februar deutlich seltener auftaucht, auch wenn die erste Verhandlungsrunde über die zukünftigen Beziehungen Anfang März in Brüssel stattfand, die Corona-Welle hat uns alle überrollt, selbst in diesen Zeiten gehen Verhandlungen weiter, gibt es altbekannte Muster zwischen UK und EU. Es finden ähnliche Berichterstattungen in Teilen der britischen Presse statt, die wieder das alte Sündenbock-Spiel betreiben:
Am 29.03. hatte die Mail on Sunday die Schlagzeile, ob Michel Barnier, EU-Verhandlungsführer, Johnson mit Corona infiziert habe, mit dem Gedanken, ob dies die ultimative Rache für den Brexit sei. Beide sind infiziert, wie Hunderttausende weltweit, aber eine britische Zeitung fragt, ob ihr Premierminister es sich vom EU-Verhandlungsführer geholt hat, bzw. über den Umweg des britischen Verhandlungsführers David Frost. Auch wenn von seriösen Medien eher Spott kam, ist die Spekulation doch wieder ein Stein in dem irrationalen Puzzle, dass die EU letztlich an allem Schuld ist und man ihren Vertretern misstrauen sollte. Der Kurs zur glorreichen britischen Zukunft nach dem langersehnten, durch einen Erdrutsch-Wahlsieg von Johnson im Dezember 2019 bestätigten Austrittswunsch, wird wieder gehindert, und zwar durch einen Europäer.
Nach dem Kopfschütteln bleiben Fragen: Was soll das? Spielt es in irgendeiner Weise eine Rolle, wo sich Johnson die Infektion geholt hat (außer zum medizinischen Nachweis einer Infektionskette, was aber eindeutig nicht zu sagen ist)? Barnier hat sicher nicht in voller Absicht und im Wissen seiner Krankheit (die da noch gar nicht feststand) David Frost bei der ersten Verhandlungsrunde ins Gesicht gehustet. Johnson hat übrigens noch Anfang März in einer Mischung aus Ignoranz und politischem Kalkül Hände in GB geschüttelt, zu denen sicher auch einige infizierte gehört haben dürften, also wozu das Spektakel einer Vermutung als Schlagzeile? Das alte Spiel: Der Feind sitzt in Brüssel, Schuld ist die EU, bzw. ihre Vertreter etc..
Seit dem Referendumsergebnis im Juni 2016 zum Brexit hat sich die Vernunft in weiten Teilen auf der Insel schon lange verabschiedet. Vermutlich verkaufen sich derzeit solche Schlagzeilen besser als etwa die traurige Statistik von Todesopfern durch Corona, übrigens mit verursacht durch erst sehr späte Maßnahmen vom Premierminister zur Eindämmung im eigenen Land. Der Virus schert sich nicht um Inselmentalität, Immigrationsregeln und Abstimmungsergebnisse einer Volksbefragung, Menschen sterben auf der Insel und auf dem Festland, Menschen verschiedener politischer Überzeugung werden getroffen, EU und UK sitzen in einem Boot. Barnier, Johnson und Frost wurden von Corona infiziert und werden es hoffentlich alle gut überstehen. Die Verhandlungen über zukünftige Beziehungen gehen weiter und da brauchen wir gerade nicht nutzlose Spekulationen seitens einiger Pressestimmen, die das alte Schuld-Spiel unbeirrt weiterspielen.
Eine zweite Verhandlungsrunde in London wurde wegen der dramatischen Corona-Entwicklung abgesagt, auch wegen der Erkrankung von Barnier. Aber sehr still und kaum beachtet gab es letzten Montag, den 30. März, die erste Telekonferenz des gemeinsamen Ausschusses, geleitet von Maroš Šefčovič, Vize-Präsident der Europäischen Kommission und Michael Gove, Johnsons Vize in Sachen Brexit, über die Umsetzung des Austrittsabkommens. Bis Juni müssen konkrete Ergebnisse vorliegen oder eine Verlängerung der Übergangsfrist beantragt werden, noch gibt es keine Signale der britischen Regierung, dass man vor allem aus Vernunftgründen eine Verschiebung erwägt. Selbst innerhalb des Civil Service, z.B. vom ehemaligen Staatssekretär des Foreign Office, gibt es Stimmen, die sagen, es sei unverantwortlich, keine Verlängerung zu beantragen.
Wenn Michael Gove z.B. kürzlich ablehnt, sich an einem EU-Beschaffungsprogramm für Beatmungsgeräte zu beteiligen, denn UK sei eine ‘unabhängige Nation‘ und man könne mit einem EU-Programm nichts tun, was man nicht auch selbst tun könne, frage ich mich, ob das Angehörige der potentiellen Todesopfer im britischen Gesundheitssystem verstehen, wenn es vielleicht doch nicht so viele Geräte gibt, wie man anderweitig hätte beschaffen können… Beim Corona-Tod haben der Nationalstolz und das Taktieren im Hinblick auf die EU-UK-Verhandlungen nämlich Grenzen.