‚Size matters‘ – die EU zeigt UK (höflich) die Zähne

20. Juli 2020

Der EU-Kommissar für Handel, Phil Hogan, diskutierte Anfang Juli online mit Fachpublikum zum Thema der umfassenden Überprüfung der EU-Handelspolitik, d.h. zu Fragen nach neuen globalen Herausforderungen und EU-Prioritäten. Dies fand zum Start der Deutschen Ratspräsidentschaft in einer gemeinsamen Reihe der Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland und der Europäischen Bewegung Deutschland statt, und die Frage nach den EU-UK-Verhandlungen war unausweichlich. Hogan stellte fest: „Size matters.“… “the UK are about to find out.”

‚Splendid isolation’ oder Wir sind dann mal weg

Die Größe der EU ist ein bestimmender Faktor bei den Verhandlungen. Die Überschrift wurde auch schon zum Austrittsdatum der Briten von der Presse erwähnt, wie etwa dem EUobserver, da es bei den Verhandlungen natürlich auch um die Macht der eigenen Positionen geht. Die Anspielung der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen darauf, dass die Stärke nicht in ‚splendid isolation‘ läge, sondern in der einmaligen Europäischen Union, kann auch als Wink für die britischen Verhandlungspartner verstanden werden. Der Kernbegriff der britischen Diplomatie im 19. Jahrhundert bedeutete, dass dauerhafte Allianzen vermieden werden sollten, man wollte niemandem Gefälligkeiten schulden, umgekehrt schuldete niemand einem Gefälligkeiten, aus Europäischen Angelegenheiten hielt man sich heraus. Letztere sind aber heute komplett andere, das Vereinigte Königreich ist weder Kolonialmacht noch hat es ein Empire.

Dennoch gibt es Anklänge daran in der Exit-Strategie der britischen Regierung aus der EU, bei der immer wieder die Größe des Königreichs, seine Souveränität, Freiheit und sein Stolz beschworen werden und viele auf der Welle einer ehemaligen Macht nostalgisch reiten. Während der EU-Referendumskampagne 2016 benutzten die Brexiteers genau diese rückwärtsgewandte Rhetorik.

Der Brexit ist nicht nur Ausdruck einer Nostalgie für das frühere britische Empire, sondern auch ein Ergebnis. Die Verbindung zur EU-Referendumskampagne Vote Leave mit einem Hauptthema Immigration ist auffällig. Der Verweis auf den Ausruf „Britain first!“ des fanatischen Mörders von Joe Cox, einer Labour-Abgeordneten, die kurz vor dem Referendum getötet wurde, ist erschreckend zutreffend. Der Wunsch, wieder ‚groß‘ zu sein, gegen ‚die Fremden‘, kann gefährlich sein und zu Hassverbrechen führen. ‚Size matters‘, wie man aus der Geschichte von ‚Rule Britannia‘ nur allzu gut weiß, verbunden mit einer Überlegenheitsvorstellung, aber das ging nicht ohne Kosten für andere und Vorteile für nur einen Teil der Gesellschaft.

ERG-Pathos gegen Scharfsinn der Kommission 

Man fühlt sich auch nach dem Brexit noch zeitlich zurückversetzt bei seltsamen Auswüchsen und dem Verkennen der Realität, wie etwa einem jüngsten Brief von Mark Francois an EU-Verhandlungsführer Michel Barnier am 26. Juni. Francois ist konservativer Unterhausabgeordneter und Vorsitzender der European Research Group (ERG), einer europakritischen parlamentarischen Gruppe, die sich schon während Theresa Mays Abstimmungsversuchen zum EU-Austrittsvertrag immer wieder durch einen Hardliner-Brexit-Kurs und Zustimmungsverweigerung hervorgetan hat. Deren einziges Ziel war der Brexit. Die Haltung von Francois war schon durch die Ablehnung des Lissabon-Vertrags in den Unterhausdebatten 2008 sehr deutlich. Er hat auch z.B. eine Spendensammlung für die „StandUp4Brexit“-Gruppe initiiert, um die Londoner Traditionsuhr Big Ben beim EU-Austritt der Briten schlagen zu lassen ‚Bong for Brexit‘. Diese Aktion fand vorwiegend aus finanziellen Gründen aber nicht statt, da Big Ben in der Renovierung steckte, aber vermutlich auch aus politischen Überlegungen, schließlich handelte es sich nicht um das Ende des zweiten Weltkriegs.

Große Gesten und demonstrierter Nationalstolz, die weit über Patriotismus hinausgehen, fielen schon öfter auf und sein ‚Sendbrief’ aus einem ‚freien Land‘ ist mehr Pathos als Substanz. Der Sprachgebrauch der Brexiteers betont immer wieder die neu gewonnene ‚Freiheit‘, ohne anzuerkennen, dass die EU-Länder eine ebensolche haben, aber sie innerhalb einer starken Gemeinschaft nutzen. ‚Souveränität‘, ‚Integrität‘ und ‚Autonomie‘ werden ebenfalls als Begriffe wie die britische Fahne geschwenkt (als hätten die anderen EU-Staaten keine), und Francois drückt seine ‚Besorgnis‘ über die ‚unvernünftigen‘ Forderungen aus, die die EU mache. Forderungen hat allerdings zuerst UK gestellt, nachdem es freiwillig ausgeschieden ist. Die EU hat über Barnier im Gegenzug ihre Position vertreten. In völliger Selbstverkennung der eigenen Bedeutung schreibt Francois an Barnier und weist auf die Dringlichkeit in den Verhandlungen hin. Danke, Herr Francois, aber das wissen die Verhandlungsführer! Schon am 15. Juni war man sich bei Videokonferenz auf höchster Ebene (ohne Herrn Francois, der nicht in den Verhandlungsteams ist) unter den Spitzen des Europäischen Parlaments, der Europäischen Kommission und des Europäischen Rates mit Premierminister Boris Johnson einig, dass man die Gespräche intensivieren müsse wegen der Dringlichkeit. Eben deshalb wurden mehr regelmäßige persönliche Treffen in Brüssel und London vereinbart. Dringlichkeit bedeutet aber nicht, dass eine Seite einfach alles bekommt, nur weil man es als ‚freies‘ Land will oder mit einem No-Deal-Szenario (wieder mal) droht.

Der Schluss des Schreibens, alles, was er und seine Kollegen von ERG wollten, sei ‚in einem freien Land zu leben‘ ist ebenso überflüssig wie unbrauchbar für Verhandlungen. Es gibt auch eine andere Bedeutung von ‚frei‘: Jeder ist frei, gegen die Wand zu laufen, sich in den Fuß zu schießen oder andere sinnlose Dinge zu tun, das heißt nicht, dass es vernünftig oder sinnvoll ist, und es heißt nicht, dass andere das mitmachen müssen.

Francois versichert zwar seine Unterstützung für Boris Johnson, kennt aber die bisherigen Verhandlungen nur lückenhaft, worauf ihn Barnier als kenntnisreicher EU-Verhandlungsführer in seinem Antwortbrief höflich hinweist.

Dort sagt er über die britische Entscheidung zum Austritt (wie übrigens schon seit dem Referendumsergebnis), dass er diese Entscheidung respektiere, allerdings keinen Mehrwert, keine positiven Konsequenzen im Brexit sehe. Diese Meinungsäußerung ist berechtigt, vor allem wenn man bedenkt, wieviel Zeit, Geld und Personalaufwand der EU abverlangt wurde durch die einseitige Entscheidung einer Nation, die mehrere Anläufe brauchte, um ein Austrittsabkommen im eigenen Parlament zu verabschieden. Aber die Politische Erklärung im Zusammenhang des Austrittsabkommens gelte und das britische Parlament unter dieser Regierung habe ihm zugestimmt, auch Francois selbst.

Barnier zeigt mit seiner Antwort genau die Differenz zwischen EU-Profi und einem britischen Politiker, der mit von Patriotismus geschwellter Brust inhaltlich wenig verstanden hat. Aber die Antwort ist auch ein sprachliches Meisterwerk, das elegant das Gegenüber in die Schranken weist. Größe ist auch wichtig in Bezug auf Kenntnisse. Bei Verhandlungsgegenständen spielt auch die Größe der Interessengruppen eine Rolle.

 Fisch gegen Finanzdienstleistungen?

Am 13. Juli startete das britische Kabinettsbüro eine Kampagne mit dem Titel The UK’s new start: let’s get going, um Unternehmen und Einzelpersonen zu helfen, sich besser auf das Ende der Übergangsfrist am 31. Dez. 2020 vorzubereiten. Eine Verlängerung dieser Frist hatte Johnson bisher immer abgelehnt und die Deadline für eine Verlängerung am 30. Juni verstreichen lassen. Die Kampagne soll Möglichkeiten eröffnen, die nach fast 50 Jahren (endlich) für ein komplett souveränes Vereinigtes Königreich verfügbar seien.

Zu neuen Möglichkeiten gehören auch die Fischereirechte, die ein Streitpunkt in den Verhandlungen sind. Bisher und noch bis Ende der Übergangsfrist sind britische Fischer an die Gemeinsame Fischereipolitik innerhalb des EU-Binnenmarkts gebunden. Ihre Gründe für eigene höhere Fangquoten sind sachlich verständlich, etwa wegen der bisherigen Benachteiligung bei Fangquoten zugunsten der EU, und sie sind emotional verständlich. Ihre Zugeständnisse an die EU waren Teil des Eintrittstickets in die Europäische Gemeinschaft. Seit Jahrzehnten sehen sie sich übervorteilt und wollen, wie bei der Parole zum Brexit, als unabhängiger Küstenstaat die Kontrolle über ‚ihre‘ Fischgründe zurückhaben. Sie hoffen, dass nach dem Brexit mehr für sie bleibt. Auch etwa der Wunsch nach Umsatzsteigerung auf britischer Seite schon durch Vergrößerung der Fischereizone  von sechs auf zwölf Meilen ist nachvollziehbar, so wie die Franzosen umgekehrt schon auf sechs Meilen zum Fischen an die britische Küste herankommen dürfen. Umgekehrt will die EU ihre Mitgliedstaaten schützen, deren Existenzen an den Küsten von der Regelung abhängig sind. Besonders Frankreich fordert eine harte Position.

Aber Fisch haben allein genügt nicht, man braucht auch Exportmöglichkeiten und dabei ist die EU derzeit der größte Handelspartner.

Die Frage etwa von Barrie Deas, dem Geschäftsführer der nationalen Vereinigung von Fischer-Organisationen, ist nachvollziehbar, wieso man nicht jährliche Verhandlungen über Quoten führt, je nach wissenschaftlicher Beratung, wie es von der EU schon mit Norwegen geschieht.

Außer sehr vernünftigen Argumenten ist aber die EU-Fischereipolitik vor allem zum Symbol geworden für Einmischung, Bevormundung und Benachteiligung der britischen Nation und wird von Brexiteers besonders gerne benutzt, um das Thema bei den Verhandlungen emotional aufzublasen. (De fakto) Vize-Premier Michael Gove  ist nach eigenen Aussagen nicht frei von persönlichen Erfahrungen, da der Betrieb seines Vaters zur Fischereiverarbeitung Pleite gegangen sei wegen der Fischereipolitik der EU. Wie sich aber herausstellt, sieht das sein Vater ganz anders, der einfach Feierabend machen wollte und sein Geschäft verkaufte, das sei nicht die Schuld der EU gewesen. Aber Michael Gove nutzt gerne anti-EU-Rhetorik.

Die Ängste der britischen Fischer sind real, die Nutzung des Themas durch Gove ist vor allem Propaganda und politisches Kalkül.

Die britischen Fischer befürchten auch, dass sie anderen Interessen geopfert werden, etwa denen des Finanzdienstleistungssektors. Die wirtschaftlichen Erträge aus letzterem übertreffen die aus der Fischerei um ein Vielfaches. Da steht Fischerei mit unter 0,1% Wirtschaftsleistung Großbritanniens den Finanzdienstleistungen mit etwa 7% gegenüber. Bei einem Freihandelsvertrag hat man von britischer Seite besonderes Interesse an Marktzugang für Dienstleistungen, vor allem für Finanzdienstleistungen. Der Finanzdienstleistungssektor hatte z.B. 2018 einen Anteil von fast 7% an der britischen Gesamtwirtschaft, fast 50% vom Gesamtbeitrag des Sektors wurde allein in London erwirtschaftet, und der Sektor war in ganz UK für etwas mehr als 3 % aller Jobs verantwortlich. Den Zugang zu den begehrten EU-Märkten muss die EU nicht gewähren: „Die Gewährung (oder Verweigerung) der Gleichwertigkeit  ist eine einseitige Maßnahme der EU.“ Und sie ist an Bedingungen geknüpft.

Schon im Februar 2020 sagte Barnier als Chefunterhändler der Kommission nach der Übernahme des Verhandlungsmandats, dass man entschlossen sei zu einer Einigung, aber ebenso, dass die Interessen der EU geschützt werden müssten. Diese decken sich eben oft nicht mehr mit den nationalen Interessen UKs. Ebenso forderte er Respekt und Verständnis für die EU von britischer Seite. Es ist kein natürliches Recht, dass UK dieselben Vorteile des EU-Binnenmarkts genießen wird wie während der Mitgliedschaft, auch das stellte etwa Barnier schon im Oktober 2016 fest Nicht-Mitglieder können niemals die gleichen Rechte wie Mitglieder der EU haben.“ Jede Gewährung von Rechten erfordert Zugeständnisse und die verlangt der größere Verhandlungspartner.

Die britischen Fischer sind zu Recht besorgt, dass ihre Interessen geopfert werden könnten. Denn auch für Einzelinteressen gilt: ‚Size matters‘.