‚Lasst Schottland nicht im Stich‘ – Chancen für Europäer mit einem Unabhängigkeitsreferendum?

28. August 2020

Einige erinnern sich noch an den leidenschaftlichen Appell des damaligen schottischen Abgeordneten Alyn Smith von der Scottish National Party (SNP) im Europäischen Parlament im Juni 2016. Er bezeichnete sich als Schotten und Europäer, verwies mit Recht auf das Ergebnis des EU-Referendums in Schottland, wo eine Mehrheit von über 60 Prozent für den Verbleib in der EU gestimmt hatte. Dort habe man die EU nicht im Stich gelassen, daher wünsche er sich, dass dies auch umgekehrt nicht passiere.

Die erste Ministerin Schottlands Nicola Sturgeon (SNP) wurde damals sofort aktiv, indem sie nach Brüssel fuhr, um Vertreter aus EU-Institutionen zu treffen. Sie erhielt einen wohlwollenden Empfang, aber auch den Hinweis, dass man nichts machen könne, solange Schottland noch Teil des Vereinigten Königreichs sei.

Mitgefangen, mitgehangen?

Premierminister Boris Johnson betonte, dass sich dieser Zustand nicht ändern solle. Die Stärke der souveränen Nation besteht in ihrer Einheit, und so lehnte er immer wieder Forderungen nach einem schottischen Unabhängigkeitsreferendum ab.

2014 gab es schon ein solches Referendum mit 55 zu 45 Prozent gegen die Unabhängigkeit. Dies habe seiner Meinung nach den Punkt auf lange Sicht geklärt. Allerdings war damals das Ergebnis davon beeinflusst, dass Schottland in der EU zusammen mit UK bleiben wollte, und eine Unabhängigkeit hätte das gefährdet. Zu dem Zeitpunkt konnte man noch nicht das Ergebnis des EU-Referendums voraussehen, das im Juni 2016 kam.

Sie forderte öfter ein zweites noch zu Zeiten von Theresa May im März 2017, als die britische Regierung formal den Austrittsantrag bei der EU einreichte. Damals lehnte Premierministerin Theresa May diesen Wunsch ab. Sturgeon wiederholte ihn mehrfach, stieß aber auch bei Johnson auf taube Ohren. Nicht nur Johnson profitierte von den Unterhauswahlen 2019, die ihm eine Mehrheit von 80 konservativen Sitzen brachte. Die SNP wurde auch deutlich gestärkt, indem sie von 59 schottischen Sitzen 48 gewann. In ihrem Wahlmanifest hatte die Partei ebenfalls die Forderung nach einem zweiten Unabhängigkeitsreferendum.

Es fiel Johnson zunehmend schwer, sich taub zu stellen.

Bei Sturgeons erstem Besuch nach dem Brexit in Brüssel im Februar 2020 sprach sie von ‚Solidarität‘ und ‚Freundschaft‘ bei Erwähnung der Abschiedsszenen im Europäischen Parlament. Sie drückte ihr Bedauern über den Brexit sehr deutlich aus und hob praktische Vorteile einer EU-Mitgliedschaft hervor.

Mit Blick auf die Zukunft betonte sie ihren Willen, ‚konstruktiv mit der UK-Regierung zusammenzuarbeiten‘, u.a. auch bei den EU-Verhandlungen, um eine möglichst enge Beziehung mit der EU zu behalten. Das erwies sich aber in den kommenden Monaten als äußerst problematisch. Sie war der Ansicht, je weiter die Entfernung von den EU-Standards sei, desto schädlicher sei dies für die Wirtschaft und die Menschen auch in Schottland.

In der Frage nach dem sog. „Level Playing Field“, also den fairen Wettbewerbsbedingungen, die in den letzten EU-Verhandlungsrunden ein Kernstreitpunkt waren, war Sturgeons Haltung klar: Sie unterstützte diesen Punkt, damit UK nicht hinter EU-Standards zurückfällt. Schon im Februar war sie allerdings nicht sehr optimistisch, die letzte EU-Verhandlungsrunde im August bestätigte ihre Skepsis.

Sie sagte außerdem sehr deutlich, dass Schottland als Antwort auf den Brexit versuchen werde, die Unabhängigkeit zu erlangen und dann eine EU-Mitgliedschaft wiederherzustellen, um als unabhängige Nation auch in das Europäische Parlament wieder einzuziehen.

Wer seit 2016 einige Unterhausdebatten verfolgte, weiß, wie erbittert Debatten auf Regierungsseite und Oppositionsseite geführt wurden und wie vor allem schottische Abgeordnete der SNP beklagten, dass sie nicht gefragt wurden bei Verhandlungen zum Brexit.

Schottisches Unabhängigkeitsreferendum wahrscheinlicher?

Nach jüngsten schottischen Umfragen, etwa im Juni 2020, ist eine Mehrheit der Befragten von 54 zu 46 Prozent für ein schottisches Unabhängigkeitsreferendum. Andere gehen im August von ähnlichen Zahlen aus. Angetrieben von Umfrageergebnissen im Juli, die eine knappe Mehrheit für die Abspaltung Schottlands von UK zeigten, reiste Johnson nach Schottland, um für die Einheit zu werben.

Er wollte auch deutlich machen, dass man in der Covid-19-Krise gemeinsam stärker sei. Gleichzeitig gab es aber schwere Vorwürfe von Sturgeon, Johnson benutze die Covid-19-Krise als ‚politische Waffe‘, um die Einheit UKs zu beschwören. Er selbst habe aber vor allem anfangs durch sein spätes und halbherziges Handeln die Krise schlecht im Griff gehabt. Es kann darüber gestritten werden, ob es Schottland denn unabhängig besser gemacht hätte.

De-fakto-Vizepremierminister Michael Gove hatte zwar die Idee, Nicola Sturgeon im Interesse der Einheit an den Kabinettstisch zu holen, fand aber bei Johnson keine Zustimmung. Die ‚schottische Frage‘ könnte hierdurch weniger geklärt als vielmehr öffentlich aus werbewirksamen Zwecken für Schottland angefeuert werden, da man auch die Tür für Sturgeons Kritik noch weiter öffnen würde.

Stattdessen schickte Johnson einige seiner Minister nach Schottland zur Werbung für wunderbare Errungenschaften des Vereinigten Königreichs und machte selbst privat Ferien in Schottland im August, letzteres auch sicher aus PR-Zwecken.

Nach der siebten, enttäuschenden Verhandlungsrunde vom 18.-21. August in Brüssel zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich über ihre zukünftigen Beziehungen ist ein Vertrag noch nicht in Sicht. Ein Ausscheiden ohne Vertrag am Ende der Übergangsphase zum 31. Dezember 2020 wird wahrscheinlicher. Ein No-Deal am Jahresende würde Johnsons Problem mit den steigenden schottischen Protesten und dem Wunsch nach Unabhängigkeit zweifellos verschärfen.

Die kommenden Wahlen für das schottische Parlament im Mai 2021 werden Johnson noch mehr unter Druck setzen. Es ist fraglich, wie lange er das zweite Unabhängigkeitsreferendum noch ablehnen kann.

Eine EU-Zukunft mit Schottland?

Johnson hat bei seinen Brexit-Verhandlungen die Einheit der Nation beschworen, genauso wie jetzt bei den Verhandlungen um einen neuen Vertrag über die zukünftigen Beziehungen zur EU. Was aber, wenn die Einheit bröckelt und eine Konsequenz des EU-Referendums 2016 auch das Zerbrechen des Vereinigten Königreichs wäre? Schottlands Forderung nach einem Unabhängigkeitsreferendum ist ein Pulverfass, an dem die Lunte schon brennt, und es könnte UK die Einheit kosten, die es als souveräner Staat nach dem Brexit so dringend will und braucht.

Formal spielt es bei den EU-Verhandlungen keine Rolle, denn man verhandelt mit der britischen Regierung und Verhandlungsführer David Frost. Ein möglicher Beitritt Schottlands spielt dabei keine Rolle. Formal müsste ein Abkommen gute Chancen auf die Ratifizierung durch das britische Unterhaus haben aufgrund der Mehrheitsverhältnisse.

Abgesehen von juristischen Details und Streitpunkten, ob ein zweites schottisches Unabhängigkeitsreferendum auch ohne britische Zustimmung durchgeführt werden kann, wächst der Unmut der Schotten.

Ein Entscheid für die schottische Unabhängigkeit würde aber nicht notwendig den Eintritt Schottlands in die EU bedeuten. Im Vertrag über die Europäische Union sind in Artikel 49 die rechtlichen Voraussetzungen für den Beitritt eines europäischen Landes festgelegt. Durch den Aufnahmeprozess, der Einstimmigkeit aller bestehenden Mitglieder verlangt, müsste auch Schottland gehen. Wie lange würde sich ein solcher Prozess hinziehen? Bei einer Aufnahme gäbe es viele praktische Probleme, etwa eine Grenze zwischen Schottland und England, Zollunion und Binnenmarkt, die UK aufgeben wollte, die Frage nach einer Währung in Schottland, d.h. ob man den Euro einführt bzw. einführen muss, und vieles mehr.

Sicher wird Sturgeon sehr gut abwägen, wann ihr Land mehr Vorteile hätte, bei einer erneuten Mitgliedschaft in der EU oder nach dem Erstreiten weiterer finanzieller und politischer Vorteile von der Regierung in London. Bei einem zweiten schottischen Unabhängigkeitsreferendum müsste sie vor allem sicher sein, dass sie eine Mehrheit bekommt, sonst wäre das Thema schottischer EU-Beitritt auf lange Zeit erledigt. Diese Entscheidung ist nicht Angelegenheit der EU.

Der Schotte Alyn Smith wünschte sich ‚kühle Köpfe‘ und ‚warme Herzen‘ und das hat viele von uns damals berührt. Für die EU-Verhandlungen stellt man sich verwundert die Frage, ob der britische Verhandlungsführer die Rede von Smith verstanden hat.

Für überzeugte Europäer*innen sind Abspaltungstendenzen innerhalb eines EU-Staates immer problematisch (siehe Katalonien und Spanien), da Einheit und nicht Spaltung Voraussetzung für Stärke ist. Allerdings ist das Vereinigte Königreich auf eigenen Wunsch nicht mehr Mitglied der EU seit dem 1. Februar 2020. In dieser aus vier Teilen zusammengesetzten Union waren zwei Teile überwiegend gegen eine Ablösung von der EU. Neben Nordirland, das durch das Protokoll Irland/Nordirland einen Sonderstatus hat, dessen Tragfähigkeit sich beweisen muss, hatte Schottland nicht die Option auf einen Sonderstatus.

Für London, das im EU-Referendum 2016 für den EU-Verbleib gestimmt hatte, gab es die zwar verständliche, wenn auch unrealistische Idee, die Metropole unabhängig zu machen und von UK abzutrennen, um dann in der EU zu bleiben. Dies hätte bedeutet, UK das Herz herauszureißen. Bürgermeister Sadiq Khan hatte schnell reagiert und erklärt, das sei nicht machbar. Schottland hat eine geringere Einwohnerzahl als London, aber es wäre im Vergleich zu anderen EU-Ländern nicht das kleinste.

Schottland ist Teil des Vereinigten Königreichs, aber wenn UK jetzt nicht mehr EU-Mitglied ist und ein Teil der Nation wieder Teil der EU sein möchte, dann führt nach jetzigem Stand der einzige Weg über ein schottisches Unabhängigkeitsreferendum. Viele Europäer wünschen den Schotten dafür Glück.

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